AUF PILGERREISE IN OSTTIBET

Der noch unbestiegene "Khawa Karpo" ist einer der "acht heiligen Berge Tibets".

AUF PILGERREISE IN OSTTIBET

 Der Pilgerweg um den Fuß des Berges gilt als einer der eindrucksvollsten Naturpfade der Welt. Keiner konnte uns sagen, ob er zum Radfahren geeignet ist. Wir machten uns auf den Weg, um das herauszufinden und erlebten unvergessliche Momente.


Ich habe mich daran gewöhnt, beim Essen Stäbchen zu benutzen. Woran ich mich allerdings nur schwer gewöhnen kann, sind die Entenköpfe, die von Zeit zu Zeit in unserem heißen Topf, einer Art chinesischem Fondue, an die brodelnde Oberfläche gebracht werden. Zwischen ihnen und den verschiedenen Innereien, die herumschwimmen, versuche ich, ein paar Stücke Gemüse oder Tofu zu ergattern, um meinen vegetarischen Appetit zu stillen. Eine echte Herausforderung, wie ich feststellen muss. Als die nächste Ladung Fischköpfe in der feuerroten Brühe verschwindet, streiche ich schließlich die Segel und beschließe, für heute genug gegessen zu haben. Den Rest des Abends verbringe ich mit Jasmintee.

Zusammen mit drei Fahrern des "Liteville Enduro Team China", Kevin, Terryn und Arsenal, sitze ich hier beim Abendessen in Shangri La. Nein, wir haben nicht das fiktive, sagenumwobene Shangri La entdeckt, das durch den Roman "Der verlorene Horizont" von James Hilton weltberühmt geworden ist. Wir sitzen in einer kleinen chinesischen Stadt in der Provinz Yunnan, die bis 2001 noch den Namen "Zhongdian" trug, etwa 130.00 Einwohner hat und 3150m über dem Meeresspiegel liegt. Der Name hatte sich aus rein geschäftlichen Gründen geändert, um nun mit dem legendären Namen noch mehr Touristen hierher zu locken. Dementsprechend ist die Altstadt liebevoll renoviert und mit hunderten von Geschäften übersät. Allerlei tibetische Souvenirs, von Gebetsfahnen über Klangschalen bis hin zu Yak-Pullovern, können hier erworben werden. Außerdem gibt es unzählige Teestuben, in denen lokaler Tee zur Verkostung und zum Verkauf angeboten wird. Sie erinnern auch an die alte "Teepferdchenstraße", die einst hier entlangführte. Sie war ein Netz alter Handelswege. Auf ihnen wurde vor allem der "Pu Erh-Tee" aus der gleichnamigen Stadt mit Pferden nach Lhasa transportiert.



Auch wir sind seit zwei Tagen in Richtung Tibet unterwegs. Ohne Pferde, aber mit unseren Mountainbikes im Gepäck. Wir haben geplant, den östlichen Teil einer sogenannten Kora, einer Pilgerroute, um den Berg "Kawa Karpo" zu fahren. Für die Tibeter ist die Umrundung des Berges, der für sie heilig ist, eine rituelle Handlung. Der Berg stellt für sie die Manifestation des Geistes des Buddha dar, und durch die Umrundung hoffen viele, diesem Buddha näher zu kommen. In besonderen Jahren des tibetischen Kalenders pilgern Tausende von Buddhisten im Uhrzeigersinn um den Berg.

Auch wir sind Pilger auf unserem Weg. Zumindest, wenn man sich die lateinische Wurzel des Wortes ansieht. "Pilger" kommt von dem lateinischen Wort peregrinus oder peregrinari, "ein Fremder sein". Und wir fühlen uns hier sehr wie Fremde. Sicherlich sind Kevin und ich, die wir beide aus Deutschland kommen, noch fremder als unsere beiden chinesischen Freunde, aber selbst sie kennen die vor uns liegende Route nur aus vagen Beschreibungen im Internet. Ohne sie wären wir nicht einmal in der Lage, den heißen Topf zu bestellen, der hier im Restaurant vor sich hin brodelt. Chinesische Schriftzeichen sind für uns wie Hieroglyphen und nicht zu entziffern. Mit unseren Englischkenntnissen kommen wir auch nicht weit. Die meisten Menschen in dieser Region sprechen so viel Englisch wie wir Chinesisch, praktisch kein einziges Wort. Und so sind wir mehr als einmal am Tag froh, in einem international gemischten Team unterwegs zu sein.

Ein weiterer Tag im Minibus wartet auf uns, bevor wir endlich auf unsere Fahrräder steigen dürfen. Wir fahren das Tal des Mekong entlang. Die Flanken der umliegenden Berge erheben sich steil aus dem breiten Flusstal. Stunde um Stunde vergeht. Der nächste Halt ist in Deqin geplant. Die Stadt im hohen Norden der Provinz Yunnan hat zunächst nicht viel zu bieten, außer einem rauen Klima. Für uns ist sie jedoch extrem wichtig. Es ist die letzte Möglichkeit, Lebensmittel für die nächsten Tage zu kaufen. Außerdem wollen wir hier einen Tibeter treffen, der uns mit seinen Packpferden begleiten wird.



Gekonnt fährt unser Fahrer den Bus durch die engen Straßen in einen Hinterhof und parkt. In einem Restaurant treffen wir unseren "Horseman". Mit leuchtenden Augen und einem breiten Grinsen begrüßt er uns. Er hat drei Pferde in seinem Haus vorbereitet und wird uns morgen früh mit dem Bus abholen, um die restlichen Kilometer dorthin zu fahren, kündigt er an. Es beginnen langwierige Verhandlungen über den Preis für seine Dienste und die Dauer der Fahrt. Da wir nicht wissen, ob und wie viel wir unterwegs fahren können, oder ob wir vielleicht sogar alles schieben müssen, wollen wir uns genügend Zeit lassen. Wir planen sieben Tage für die Tour ein. Auf der anderen Seite der Bergkette soll uns unser Fahrer wieder mit dem Bus abholen. Er wird den ganzen Weg entlang des Mekong zurückfahren und dann im Tal des Jangtse flussaufwärts zurück zum vereinbarten Treffpunkt. Auch dafür wird er vier Tage brauchen! Die Dimensionen sind hier unbeschreiblich groß. Nach langem Hin und Her verabreden wir uns für den nächsten Morgen um 8 Uhr. Die Nacht verbringen wir im 10km entfernten Feilei Si, einem höher gelegenen Touristenort. Die Schlafhöhe auf 3300m hilft uns, uns an die dünne Luft zu gewöhnen. Denn auf unserer Route wartet am dritten Tag bereits der höchste Pass mit über 4500m auf uns. Um nicht die Höhenkrankheit zu bekommen, müssen wir uns langsam an die Höhe gewöhnen.

Auch für den Abend hoffen wir auf gutes Wetter. Vom Feilei Si haben wir, sofern die Luft klar ist, einen fantastischen Blick auf den 6740m hohen Kawa Karpo, den heiligen und höchsten Berg Yunnans. Leider wird es nichts mit der Aussicht, der Berg versteckt sich den ganzen Abend hinter einer dicken Wolkendecke. Beim Abendessen planen wir so weit wie möglich, was wir morgen einkaufen wollen. Reis, Gemüse, ein wenig Fleisch und Kekse für die Straße. Alle sind sehr gespannt auf das, was uns erwartet. Wird es fahrbar sein? Werden wir die Höhe bewältigen können? Wie wird das Wetter sein? Werden wir in unseren Zelten oder in den wenigen Camps entlang des Weges schlafen? Wird unser Fahrer auf der anderen Seite ankommen? Fragen über Fragen.

Am nächsten Morgen gehen wir auf dem riesigen Markt in Deqin einkaufen. Ziemlich verloren stehen wir da, denn keiner von uns hat eine Ahnung, wie viel Essen wir brauchen werden. Es gibt Nudelsuppe zum Frühstück, Kekse und Schokolade zum Mittagessen und Reis und Gemüse zum Abendessen. So sieht der Essensplan aus. Also dann, nur nicht zu wenig einkaufen, verhungern auf der Straße ist nicht gut. Schon gar nicht bei der Anstrengung. Wir tragen unsere Einkäufe in großen weißen Tüten in den kleinen Bus. Bis unters Dach vollgepackt, ist nicht genug Platz für uns alle. Also schwingen wir uns auf die Fahrräder. Der Bus fährt vor, die Waren werden ausgeladen, dann sammelt uns der Fahrer am Straßenrand ein, um zum Treffpunkt mit den Pferden in einem kleinen tibetischen Bergdorf zu gelangen. Unten im Tal haben wir die Grenze nach Osttibet passiert, die nur durch einen spärlich besetzten Kontrollpunkt in einem winzigen Zelt am Straßenrand sichtbar ist. Die Beamten kontrollierten nur kurz unsere Ausweise und zeigten ansonsten kein Interesse an uns.



Das Gepäck wird gewogen, auf die Pferde verteilt und wir packen unsere Tagesrucksäcke. Vier Pferde brauchen wir jetzt mit dem ganzen Futter, sonst wird die Last zu schwer für die Tiere. Bevor wir starten dürfen, müssen wir noch eine Vereinbarung über die Leistung und Bezahlung "unterschreiben". Das geschieht nicht mit Stift und Unterschrift, sondern mit Stempelkissen und Fingerabdruck. Erst wenn vier rote Fingerabdrücke auf dem Papier sind, dürfen wir loslegen. Eine steile Schotterpiste führt uns hinauf auf 3200m, unsere erste Überquerung. Hier endet die Straße und die Spannung steigt ins Unermessliche. Was erwartet uns hinter der ersten Kurve? Fahren? Schieben? Oder gar bergab tragen?

Unser "Horseman" verabschiedet sich von uns. Er wird nicht mit uns auf die Tour gehen. Seine Frau und ein Verwandter begleiten uns mit den Pferden. Sie sind schon vorausgefahren und wollen im ersten Camp auf uns warten. Von nun an sind wir auf uns allein gestellt, ohne Telefonempfang, ohne Internet und ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Wir müssen alles, was wir brauchen, selbst tragen und uns selbst helfen, wenn etwas passiert. Ein Höhenprofil und eine ungenaue digitale Karte sind alles, was wir zur Orientierung haben. Demnach gibt es aber nur einen Weg über die Berge.

Wir klatschen ab, treten in die Pedale und schon tauchen wir in eine völlig andere Welt ein. Wie eine Achterbahn windet sich der Weg in einem Tunnel aus Gebetsfahnen hinunter in den Wald. Tausende von ihnen hängen in bunten Farben wehend rechts und links am Rande des etwa 50 cm breiten, glatt getrampelten Weges. Es fühlt sich an, als würde man mit hoher Geschwindigkeit durch einen Malkasten rasen. Als hätte man im Kopf einen Reset-Knopf gedrückt und auf "jetzt und hier" geschaltet. Die Gefühle überschlagen sich. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit halten wir für einen Moment inne. Wir strahlen alle vier wie Honigkuchenpferde, fallen uns in die Arme und können unsere Freude kaum ausdrücken. Übernatürlich ist das einzige Wort, auf das wir uns einigen können, um diesen Weg zu beschreiben. Es ist das Beeindruckendste, was wir je gefahren sind. Wenn es in den nächsten Tagen so weitergeht, wird es ein Riesenspaß.

Bei einer halb verfallenen Holzbaracke im dichten Wald holen wir die Pferde ein. Es ist bereits dunkel. Dies ist unser Lagerplatz. In einem Unterstand brennt ein Lagerfeuer. Küche und Aufenthaltsraum sind hier vereint. Hinter der Hütte plätschert ein Bach. Ein paar aufrecht stehende Baumstämme sind mit Plastikplanen abgedeckt und stellen unser Schlafzimmer dar. Alte Matratzen und feuchte Decken liegen auf hölzernen Podesten. Wir legen unsere Schlafsäcke darüber. Unsere tibetischen Begleiter kochen gemeinsam mit uns. Keiner von uns kann ihre tibetischen Namen aussprechen, also taufen wir sie Annemarie und Hans, was ihnen sichtlich Spaß macht. Großes Gelächter am ersten Abend einer Reise mit neuen Gefährten ist ein gutes Zeichen für eine entspannte Atmosphäre in den kommenden Tagen.



Am nächsten Morgen sitzen wir bei Nudelsuppe und Reis am Lagerfeuer. Daran werden wir uns wohl in den nächsten Tagen gewöhnen müssen. Arsenal knabbert genüsslich an getrockneten Hühnerbeinen, die er vom Markt mitgebracht hat. Draußen regnet es leicht. Hier auf fast 3000m wächst dichter Wald um uns herum. Erstaunt schauen wir auf die Artenvielfalt, die wir hier oben nicht erwartet haben. Nach dem Frühstück starten wir auf einem schlammigen, mit glatten Steinen übersäten Pfad, der oft fast vollständig von der dichten Vegetation verschluckt wird. Ein völliger Gegensatz zu gestern. Immer wieder versuchen wir, kleine Stücke zu reiten, was selten gelingt. Entlang des Weges stehen einige verlassene Holzbaracken, die davon zeugen, dass hier in manchen Jahren Tausende von Pilgern unterwegs waren. Jetzt sind sie verfallen und warten darauf, von der Natur zurückerobert zu werden.

Es geht fast den ganzen Tag bergauf. Das heutige Camp liegt auf 3900m. Die letzten 250hm sind so steil, dass wir die Räder tragen müssen. Wieder säumen Tausende von Gebetsfahnen den Weg. Auf halber Höhe sind verschiedene Buddhafiguren in eine Felswand gehauen und bunt bemalt. Es fühlt sich an, als würden wir einen heiligen Ort durchqueren. Nach acht Stunden erreichen wir einige kleine Holzhütten. Wir sehen unsere Pferde und haben es endlich geschafft. Das Bettenlager ist ein bisschen sauberer und größer. Ansonsten sind sich die Lager alle sehr ähnlich. Eine Feuerstelle mit Holzbänken in Kniehöhe zum Sitzen und ein mit Planen abgedeckter "Schlafsaal". Annemarie und Hans sind schon lange hier und haben für uns Reis und Gemüse am Feuer vorbereitet. Erschöpft und dankbar bedienen wir uns. Gesättigt verweilen wir nur kurz am Lagerfeuer. Morgen wird ein langer Tag, der höchste Pass wartet auf uns. Deshalb kriechen wir in unsere Schlafsäcke.

Ein früher Start mit Regen läutet den nächsten Tag ein. Ganz langsam finden wir einen Rhythmus. Die Luft wird dünner und dünner und wir atmen schwer. Schon gestern machte uns die Höhe zu schaffen und das Tempo wurde merklich reduziert. An Fahren ist wieder einmal nicht zu denken, zu steil ist der Weg zum bald sichtbaren Pass. Erst hier oben ist die Baumgrenze, auf etwa 4000m. Zu Hause in den Alpen gibt es in dieser Höhe nur Schnee und Eis. Die Gruppe zieht sich ein wenig auseinander, jeder geht sein eigenes Tempo. Schon weit vor der höchsten Erhebung beginnen Girlanden aus Gebetsfahnen, uns den Weg zu weisen. Der Regen lässt ein wenig nach und wir schleppen uns schwer atmend über einen Teppich aus bunten Stofffahnen. Der Boden ist nicht mehr zu sehen, alles ist bedeckt mit Milliarden von "Windpferden", der korrekten Übersetzung aus dem Tibetischen für die Fahnen. Die Berge sind schroff und wolkenverhangen. 4500m zeigt mein GPS-Gerät hier am "Duokha La" an. Der höchste Punkt unserer Pilgerreise ist erreicht!

Ein dumpfes Grollen begleitet die tiefschwarzen Wolken und erinnert uns daran, loszugehen. Die ersten Meter schieben wir uns über den glitschigen Teppich aus Gebetsfahnen hinunter, bis wir felsigen Boden erreichen. Wir blicken hinunter in ein tiefes Tal. Weit unten erkennen wir eine grüne Wiese mit einem Bach zwischen den steilen Felswänden. Dorthin führt ein anspruchsvoller Weg, der mit über 100 Serpentinen volle Konzentration erfordert und an unseren Kräften zehrt. Das Gewitter hat sich verzogen und als wir unten ankommen, scheint die Sonne. Wir stellen die Räder und uns auf der Wiese ab und gönnen uns ein paar Kekse. Wir blicken zurück zur Passhöhe und sehen die beeindruckende Abfahrt vor uns. Erschöpft, aber glücklich, genießen wir die Aussicht, bevor wir die letzte halbe Stunde zum Campingplatz rollen.

Am nächsten Morgen fällt es uns schwer, aus den Schlafsäcken zu kommen, der gestrige Tag steckt uns noch in den Knochen. Doch schon die ersten Meter hinter dem Camp lassen uns auf einen fantastischen Fahrtag hoffen. Die Straße ist so flach wie am ersten Tag und lädt uns zu Höchstgeschwindigkeiten ein. Es tut gut, endlich wieder den Wind zu spüren. Das geht so weiter, bis wir wieder in den Wald kommen. Hier wird es sofort blockiert und glitschig. Eine Gruppe tibetischer Pilger, begleitet von einem Mönch in rot-orangefarbener Robe, zieht vorbei. Nachdem er uns entdeckt hat, geht er direkt auf uns zu. Freundlich mit einem "Taschi Delek", dem tibetischen "Hallo", begrüßt er uns. Wir verstehen kein Wort und doch kommt mit Händen und Füßen eine Verständigung zustande. Er zeigt großes Interesse an unseren Fahrrädern und kann kaum glauben, dass wir mit ihnen über den Pass gekommen sind. Wir sind erstaunt, als er unter seinem Umhang ein goldenes Smartphone hervorholt und mit uns Fotos machen will. Den Gefallen tun wir ihm natürlich gerne und auch wir machen noch Erinnerungsfotos von der freundlichen Begegnung. Den Nachmittag verbringen wir noch einmal schiebend, bis wir unser Camp erreichen.

Der vierte Morgen auf unserer Tour beginnt wie üblich mit Nudelsuppe und Tee. Wir sehnen uns nach Kaffee und Brot mit Marmelade. Verzicht ist sicherlich ein Teil der Reise. Wir dürfen nicht nur auf vertraute Lebensmittel verzichten, sondern auch auf Ablenkungen wie Telefon und Internet. Die Errungenschaften des digitalen Zeitalters haben wir noch keine Minute vermisst. Es gibt immer etwas zu tun. Und wie schön ist es, sich unterhalten zu können, ohne dass jemand ständig auf seinem Smartphone tippt und abgelenkt wird. Am Anfang führt der Weg entlang des rauschenden Baches. Langsam aber stetig steigt der Weg an und führt zu einem kleinen Hügel. Auch dieser ist mit Tausenden von Gebetsfahnen geschmückt. Außerdem sind hier Hunderte von Essensschalen aufgestapelt, die wahrscheinlich als Opfergaben zurückgelassen wurden. Daneben liegen auch verschiedene Kleidungsstücke auf einem kleinen Haufen zusammen. Es macht einen wenig sakralen Eindruck auf uns. Es erinnert eher an eine Mülldeponie.

Der Weg führt im Zickzack steil nach unten. Unsere Haarnadeltechnik wird wieder einmal auf die Probe gestellt. Der Wald lichtet sich und wir kommen an einen reißenden Fluss. Etwas überrascht von der Szenerie, überqueren wir eine Brücke und folgen dem Weg flussabwärts. Noch größer ist unsere Überraschung, als wir am Wegesrand ein Haus stehen sehen, das erste seit fünf Tagen. Und tatsächlich haben wir hier im zweiten Stock ein Lager für uns. Nach den Tagen in feuchten und schäbigen Holzbaracken genießen wir die unerwartet saubere Abwechslung. Bis hierher haben wir in den letzten Tagen nicht mehr als 20 Menschen getroffen. Um die kleine Behausung herum sind es ungefähr genauso viele. Im Keller gibt es einen kleinen Lebensmittelladen, in dem das Nötigste eingekauft werden kann. Bunt geschmückte Motorräder mit riesigen Lautsprechern werden für den Transport der Waren eingesetzt. Auf ihnen können sich auch müde Pilger auf den Weg zur Straße über den letzten Pass machen. Natürlich begleitet von chinesischer Folkloremusik in ohrenbetäubender Lautstärke. In uns keimt die Hoffnung auf eine durchgehend befahrbare Straße.



Wir helfen morgens beim Beladen der Pferde und starten gemeinsam. Am Anfang sind wir mit den Rädern schneller, aber das ändert sich nach ein paar Kilometern. Der Weg ist bald zu steil, um ihn ohne Motorunterstützung zu fahren, also steigen wir ab. Heute wollen noch einmal über 1000hm bergauf bewältigt werden. Und so wie es aussieht, werden wir wohl 100% davon schieben. Stundenlang, monoton, ein Fuß vor dem anderen. Zwischendurch werden uns die Räder wirklich zur Last. Ein Bretterstand mit kalten Getränken bietet eine kleine Abwechslung. Wir bestellen eine Cola und machen eine kurze Pause. Aus dem Wald ertönt laute Musik und kündigt ein paar Motorräder an. Insgeheim wünscht sich wohl jeder von uns auch einen Motor zu seinem Bike. Nach fast vier Stunden erreichen wir den letzten Pass, ohne auch nur einen Meter gefahren zu sein. Wir sind immer noch begeistert von den bunten Fahnen, die auch hier den höchsten Punkt zieren. Der Blick reicht zurück über die Etappen der letzten zwei Tage. Wir sind erleichtert. Bis Abingcun, dem Dorf, in dem wir unseren Fahrer treffen müssen, geht es nur noch bergab. Die Landschaft ändert sich komplett. Es ist staubtrocken und heiß. Der dichte Wald hat sich in spärliche, einsame Kiefern verwandelt. Aber der Weg ist genauso gut wie am ersten Tag und zaubert ein erschöpftes Lächeln auf unsere Gesichter.

Auf einem Bergrücken liegt unser letztes Lager. Wir haben uns schon den ganzen Tag darauf gefreut, uns zu waschen. Falsch, hier oben gibt es kein Wasser. Es muss mit Motorrädern aus dem Tal herbeigeschafft werden und wird ausschließlich zum Kochen verwendet. Auch das Abendessen ist dürftig. Unsere Vorräte sind ziemlich erschöpft und so gibt es Trockenreis mit Lauch. Von unserem Einkauf auf dem Markt ist nichts mehr übrig. Hinter der Hütte steht eine große Gebetsmühle. Als die Sonne untergeht, drehen wir sie andächtig, schlagen bei jeder Umdrehung eine Glocke an und ein helles "Klirren" schallt über die sonst völlig stille Landschaft in die Ferne. Fast wehmütig sitzen wir ein letztes Mal am Lagerfeuer zusammen und lassen die Erlebnisse der vergangenen Tage Revue passieren. Über ein Jahr haben wir uns vorbereitet und nun ist die Reise bald zu Ende.

Der Trail am letzten Tag ist wieder ein Highlight. Staubig, aber wie für das Biken gemacht. Wir rauschen durch die light Bäume aus den Bergen nach Abincun. Nach sieben Tagen in der Abgeschiedenheit kehren wir langsam in die Zivilisation zurück. Mit dem Bus erreichen wir nach etwa drei Stunden Fahrt die erste größere Stadt und stürmen sofort ein Restaurant.

Nachdem Terryn und Arsenal die Wahl für uns alle getroffen haben, stoßen wir auf die erfolgreiche Tour an. Danach kehrt erst einmal Stille ein. Diesmal ist sie nicht genüsslich und erhaben, wie so oft an den letzten Abenden, sondern digitaler Natur. Es gibt wieder Empfang und so werden Mails gelesen, die neuesten Nachrichten gesucht und Berichte an die Daheimgebliebenen verschickt. Erst wenn das Essen auf den Tisch gebracht wird, sind alle wieder voll wach. Es kommt mir sehr gelegen, dass es viel Gemüse und Kartoffeln zur Auswahl gibt und diesmal keine Entenköpfe auf den Tellern liegen.

Text: Gerhard Czerner
Bilder: Martin Bissig